Das Märchen vom Markvippacher Schlossgespenst
Es war einmal ein Schlossgespenst. Es war sehr klein und noch sehr jung; es hatte noch nicht mal einen Namen!
Deshalb wohnte das kleine Schlossgespenst auch in der Wasserburg zu Markvippach ganz oben auf dem Spitzboden.
Weiter wohnte niemand da oben.
Jeden Tag kamen aber viele Besucher zur Burg. Sie wollten sehen, wie aus dem alten Schloss wieder eine wunderschöne Wasserburg entstanden ist. Das war keine Zauberei! Oma Marion und Opa Günther hatten das alte Schloss vor ein paar Jahren gekauft und mit vielen Helfern alles wieder ganz neu hergerichtet. Aber nicht nur Besucher kamen zu der schönen Burg und wollten richtig gut essen und trinken und übernachten. In den Ferien waren nämlich auch alle Enkelkinder zu Besuch bei Oma Marion und Opa Günther. Wer konnte schon auf einer Ritterburg Ferien machen?
So trug es sich zu, dass alle vier Enkelinchens, nämlich Klaudin, Kathleen, Kristina und Klara aus dem fernen Prag eine Ferienwoche bei Oma und Oma verbrachten. Sie hatten schon alle Zimmer, Gewölbe und Gänge erkundet. Nur ganz oben auf dem Spitzboden waren sie noch nicht. Deshalb fragte eines Tages Oma Marion, wer denn Lust hätte, ganz oben mal nach dem Rechten zu sehen. Kathleen und Klaudin waren gleich Feuer und Flamme! Juhu! Vielleicht gab es doch noch in irgendeiner Ecke vom Spitzboden einen verzauberten Märchenprinzen, den es zu erlösen galt?
Oma Marion holte den großen Spitzbodenschlüssel , nahm Klaudin und Kathleen an die Hand und die drei stiegen bis zum Spitzboden hinauf. Es war ein sehr großer Spitzboden und ziemlich dunkel. Er war auch noch nicht aufgeräumt und ein paar Spinnweben hingen von den Balken- wie im richtigen Märchen. Oma Marion musste Kathleen und Klaudin sogar ein wenig in den Spitzboden hineinschieben.
,,Ihr braucht keine Angst zu haben; ich bin ja dabei. Geht getrost den Gang weiter." beruhigte Oma Marion. Kathleen und Klaudin schoben sich nun gegenseitig voran. Durch das Dachlukenlicht schimmerte die Sonne auf
eine lange Reihe verstaubter Ritterrüstungen.
Kathleen und Klaudin wollten schnell an ihnen vorbeihuschen, denn die mächtigen Blechgesellen sahen doch recht bedrohlich aus. Doch genau in diesem Moment fingen die Rüstungen an, sich zu bewegen. Alles schepperte und ächzte. Die Dielen knarrten auch entsetzlich. Ein blecherner Ritter hob sogar ein wenig den Arm, als wollte er mit seinem mächtigen Schwert zu einem Hieb ausholen. Kathleen schrie laut auf und lief zu Oma Marion. Da hielt es Klaudin auch nicht mehr und sie rannte Kathleen hinterher. Doch bei jedem Schritt wurde das Ächzen lauter und die Rüstungen schwankten umso mehr.
Sie hatten fürchterliche Angst und Oma Marion konnte die beiden gar nicht mehr beruhigen. Jetzt liefen auch noch Kristina und Klara die Treppen hoch und wunderten sich über das Geschrei und das Gescheppere.
Opa Günther stand plötzlich neben den Blechrittern und nahm Kathleen und Klaudin an die Hand.
„Ihr braucht keine Angst zu haben.“, sagte er beruhigend, „Es ist doch nur unser Schlossgespenst!“.
Damit konnte er die beiden erst recht nicht beruhigen und Kristina und Klara schauten auch entsetzt drein.
„Ich gehe nie mehr auf den Spitzboden.", entsetzte sich Kathleen. ,,Komm, Omi, ich will wieder runter auf dem Spielplatz mit meinen Schwestern." Tadelnd blickte Oma Marion nun Opa Günther an – allen auch noch solch einen märchenhaften Unsinn zu erzählen! Das verwunderte Opa Günther natürlich nicht. Er machte eine sehr geheimnisvolle Miene und fragte seine vier Enkelinchen mit einem Augenzwinkern zu Oma Marion:
„Soll ich euch die Geschichte von unserem Schlossgespenst erzählen?“
„Oh, ja!“, rief Kristina und Kathleen, Klaudin und Klara – nun doch schon wieder mutig und neugierig, denn alle vier Geschwister liebten Märchen und Geschichten.
Opa Günther begann:
„Hier in unserer kleinen Burg Markvippach lebt tatsächlich ein Schlossgespenst.
Es hat seine Wohnung hier oben auf dem Spitzboden.
Es ist ein sehr kleines und junges Gespenst-deshalb hat es die ganz neu renovierte Burg vom Gespensterministerium zum Spuken bekommen. Unser Gespenst ist ein sehr, sehr junges Schlossgespenst – es wird nächstes Jahr gerademal einhundert Jahre alt.
Klara schmunzelte und die anderen drei Mädchen staunten.
„Das ist für Gespenster ein sehr junges Alter. Unser Schlossgespenst fühlt sich ungefähr so jung wie ihr. Einmal im Jahr kommt das Obergespenst vom Ministerium zu Besuch.
Das Obergespenst kontrolliert alle Gespenster auf Schlösser und Burgen. Die Gespenster müssen dem Obergespenst berichten, was sie Gruseliges anstellen und wie sie die Menschen erschrecken. Denn das ist ja die Aufgabe der Gespenster. Aber unser junges Schlossgespenst hat selber Angst. Es fürchtet sich ganz sehr, nachts durch alle Räume zu huschen. Deshalb hat unser Schlossgespenst das Obergespenst gebeten, ausnahmsweise tagsüber spuken zu dürfen. Das Obergespenst hatte Mitleid und erteilte unserem Schlossgespenst die Erlaubnis, ausnahmsweise tagsüber zu spuken. Zumindest bis es hundert Jahre alt wird und sich einen Namen verdient hat. Und seitdem huscht es unter den Dielen hin und her und wackelt mit den Ritterrüstungen. Wenn es mal ganz mutig ist und keiner zu sehen ist, schwebt unser Schlossgespenst sogar ein, zwei Stockwerke tiefer, wackelt mit den Gläsern im Schrank oder streichelt die Katze, bis ihr Fell zu berge steht. Nehmt ihr es jetzt unserem Schlossgespenst immer noch übel, dass es ein wenig spukt?“, beendete Opa Günther seine Geschichte.
„Naja“, meinte Kristina nachdenklich, “wenn es auch Angst hat, dann soll es meinetwegen ein bisschen spuken dürfen."
"Aber woher weißt du denn das alles?“, fragte Klaudin doch etwas zweifelnd.
„Das Schlossgespenst hat es mir natürlich selber erzählt.“, antwortete Opa Günther.
Klaudin blickte ungläubig und Oma Marion schmunzelte.
„Tja, ihr Lieben! Das ist halt so mit den Geschichtenerzählen. Entweder ihr glaubt daran oder ihr glaubt nicht daran. Ihr könnt selbstverständlich auch noch einmal auf den Dielen herumspringen und beobachten, ob sich die Ritterrüstungen bewegen. Dann spielt ihr eben vielleicht selbst ein bisschen Gespenst.“, meinte Opa Günther am Ende der Geschichte und meinte:.
,,Und zum allerletzten Schluss darf sich jedes Kind einen Namen für das Schlossgespenst ausdenken und laut zum Spitzboden rufen. Vielleicht gefällt allen Vippa, Vippi oder Vippus? oder, oder..? Und vielleicht hört zufällig das Obergespenst mit und trägt dann diesen Namen für unser Schlossgespenst in einen richtigen Gespensterpass ein!"
Das Märchen vom Markvippacher Schornsteingespenst
Es war einmal ein Gespenst. Das Gespenst hatte sogar einen Namen: Es hieß Markus.
Gespenster bekommen erst einen Namen, wenn sie über 100 Jahre alt sind. Markus war schon 401 Jahre alt. Das Gespenst war genauso alt wie der Schornstein auf der Wasserburg zu Markvippach. Mit jeder neu gebauten Esse wird auch ein neues Schornsteingespenst geboren. Sonst würde ja der Rauchabzug nicht funktionieren. Die Wasserburg war sogar noch älter, aber da gab es früher keinen Schornstein, sondern nur einen Rauchabzug in der Küche. Wo sollte sich da ein Gespenst verstecken können?
Markus war das älteste Schornsteingespenst in Markvippach.
Sein ganzes Gespensterleben verbrachte Markus in kleinen Essen und großen Schornsteinen in Markvippach, spukte herum und düste auf und nieder. Das hörten dann die Menschen und meinten, der Wind heulte wieder mal sehr kräftig. Manchmal verwandelte er den Rauch in schwarze Klumpen und warf sie in der Gegend umher. Da hatte Markus in Markvippach immer gut zu tun. Dann hatte er gute Laune und verwandelte den Rauch sogar in kleine Kringel. Das sah am Himmel ganz lustig aus.
Aber das war schon lange her! Seit geraumer Zeit fror Markus immerzu in seinen Lieblingsschornsteinen. Es war nicht mehr so viel fetter dicker Rauch da, weil die Menschen ihre Heizungen anders bauten, sodass nur noch ganz wenig Rauch gemacht wurde.
Deshalb beschloss das Landesministerium für Gespenster, dass das alte Gespenst Markus den höchsten Schornstein im Markvippacher Land als Ruheversteck tagsüber nutzen durfte , weil der Schornstein auf der Wasserburg so schön von der Sonne angestrahlt wurde und im Innern warm blieb.
Der Schornstein war auch nicht mehr so schmutzig und es kam nur weißer Rauch heraus – gut für sein altes langes gespenstisches Hustenleiden.
Und weil Markus immer nachts umherstreifte und nicht mehr gut sehen konnte, hat es das Obergespenst tatsächlich hinbekommen, dass die schöne Wasserburg nachts mit Lichtern angestrahlt wird, sodass Markus nach seinen Ausflügen immer wieder zu seinem gemütlichen Plätzchen hoch oben zurückfinden konnte.
Nur nicht an diesem Morgen!
Markus hatte wahrscheinlich zu viel Rauch bei seinem Nachtausflug verbraucht und fiel direkt Bruno und Alfred vor die Füße...
Bruno und Alfred verbrachten gerade die Ferien bei Oma Marion und Opa Günther. Oma Marion und Opa Günther waren die Oberhäupter der Burgfamilie auf dem Wasserschloss. Da gab es keine Langeweile!
Gestern Abend hatte sich Bruno gewünscht, dass Opa Günther mit ihm angeln geht. Da wollte natürlich sein Bruder Alfred, der drei Jahre jünger war, auch mit. Das war alles kein Problem, denn die Wasserburg hat einen großen Burgteich mit vielen Fischen drin. Sonst wäre es ja keine Wasserburg. Die Anreise zum Burgteich dauerte genau zwanzig Schritte.
Allerdings war es noch sehr, sehr zeitig am Morgen. Deshalb hatte Opa Günther für sich und seine beiden Enkel Bruno und Alfred kleine Stühlchen und Decken mitgebracht. Kaum hingesetzt, schlief Opa Günther auch schon ein. Alfred döste auch so vor sich hin.
Bruno wartete und wartete auf den ersten Fang – es biss aber kein Fisch an. Das war langweilig. Es war sogar sehr langweilig. Es war nunmehr oberlangweilig!...
...Auf einmal zischte und brauste es um ihn herum. Das war Markus ohne Treibstoff.
Bruno und Alfred waren sehr mutige Jungen, aber als sie Markus am Boden zuckend sahen, erschraken sie fürchterlich.
Die beiden Geschwister hatten schon selbst Unmengen an Gespenstern und Geistern aufs Papier gebracht und in ihrer Fantasie gehörig ausgemalt, aber das war dann doch ein zu grausiger Anblick:
Ein Gespenst mit wallendem schwarz grauen Bart, kleine Tornadowolken tobten um ihn herum mit einem hohen Pfeifton. Außerdem roch er grässlich nach jahrhundertealtem Rauch.
Das war zu viel für Bruno und Alfred! Sie wollten sogleich Opa Günther wecken.
Da hörten sie ein klägliches ,,Hilfe, Hilfe“ aus der Richtung vom Gespenst.
Wie? Was? Ein Gespenst, das um Hilfe ruft?
Die Geschwister fassten Mut und schubsten sich gegenseitig zum Gespenst hin.
,,Wie heißt du?“, fragte das Gespenst den großen Bruder.
,,Ich heiße Bruno, und ich bin schon ein großer Junge, weil ich schon zehn Jahre alt bin“, sprach sich Bruno selbst Mut zu (Er war erst neun- naja, eine Notlüge. Mit zehn war man ja schon ein großer Junge). ,,Und das ist mein Bruder Alfred und er geht auch schon in die Schule! Aber wie heißt du? Und warum hast du um Hilfe gerufen?“, fragte er das Gespenst.
,,Zehn Jahre – Papperlapapp! Ich bin vierhundertundein Jahr alt. Ich bin das Schornsteingespenst Markus.“, sagte das Gespenst. ,,Ich brauche Hilfe, um wieder in den großen Schornstein hineinzukommen! Mein Treibstoff ist alle. Du musst mir helfen!“
,,Kannst du auch bitte sagen?“, fragte Alfred mutig.
,,Bitte“, schnaufte das Gespenst. ,,Und zwar sofort!“
Hinter den Bergen von Markvippach ging gerade die Sonne auf, und das tat Markus gar nicht gut.
,,Also gut. Nochmal bitte, bitte, lieber Bruno und lieber Alfred! Helft mir, da hinauf zu gelangen, sonst verbrennt mich die Sonne und ich löse mich in Nebel auf“.
Das wollten die beiden nun auch nicht. Sie hatten tatsächlich Mitleid mit dem alten Zottelgespenst bekommen.
,,Ich wecke Opa auf, der weiß bestimmt weiter.“
,,Halt! Erwachsene dürfen mich auf keinen Fall sehen. Das ist oberste Regel vom Gespensterministerium.“, rief Markus energisch.
,,Wie können wir dir helfen?“, fragte Alfred.
,,Ganz einfach. Ich brauche Treibstoff. Ich muss viel Rauch tanken. Ihr macht ein Feuer und legt ganz viele grüne Äste darauf. Dann kann ich mit dem Rauch aufsteigen und in meinen Schornstein segeln.“
„Aber hier ist weit und breit kein Treibholz und die Äste am Ufer sind viel zu hoch.“, zweifelte Bruno. ,,Und Feuer machen darf nur Opa Günther.“
,,Tatsächlich!“, brummte Markus. ,,Ich bin am Ende. In allen Jahrhunderten habe ich immer Rauch von den Markvippachern bekommen. Warum raucht denn keine Esse mehr richtig? Ich brauche Rauch!“, stöhnte Markus verzweifelt und prustete rasselnd vor sich hin.
,,Alfred! Du musst eine dicke Zigarre rauchen, dann komme ich vielleicht bis zum Schornsteinrand!“
,,Ach was, Markus! Kein Mensch raucht mehr dicke Zigarren - und als Kind sowieso nicht!“, erwiderte Alfred.
Da hatte Bruno eine geniale Idee!
Am Ufer stand eine Reihe Schilfzigarren. Bruno erinnerte sich, dass die großen Jungs am Stotternheimer See die Schilfzigarren angezündet hatten und so vortäuschten, als rauchten sie große, dicke Zigarren.
Das war bestimmt nicht ganz erlaubt, aber es sah sehr lustig aus.
Bruno hörte doch ganz oft, dass er ein schlauer Junge sei. Da muss doch eine Lösung her, wie die Schilfzigarren rauchen könnten. Und wieder hatte Bruno eine geniale Idee:
,,Markus, du musst jetzt schnüffeln, ob hier gestern Abend am Seeufer die Burggäste ein Lagerfeuer an unserer Grillstelle machten. Da haben wir vielleicht Glück, dass noch ein wenig Glut darin steckt.“
,,Du bist ja wirklich ein kluger Junge.“, lobte Markus und schniefte sogleich die Luft ein.
Tatsächlich erschnüffelte das Schornsteingespenst gleich in der Nähe einen kleinen Rauchschwaden und pustete die Feuerstelle mit letzter Kraft und knarzigem Pfeifton frei. Ein ganz kleiner Glutrest war noch da.
Sogleich sammelten Bruno und Alfred eine Handvoll Schilfzigarren und zündeten sie an.
Weißer Rauch quoll aus den Schilfzigarren und Markus saugte den Rauch genüsslich ein.
,,Ihr habt mich gerettet!“, jubelte Markus. Der Jubel klang allerdings so, als hätte ein Traktor Motorprobleme und einen kaputten Auspuff. ,,Nun kann ich endlich in meinen gemütlichen Schornstein verschwinden, bevor die Sonne vollends aufgeht. Ich nehme die Schilfzigarren gleich alle mit und rauche sie unterwegs zu Ende.“
„Hoffentlich schaffst du es!“, rief Alfred dem Gespenst nach. Markus schwebte bereits davon.
„Wenn ich oben gelandet bin, mache ich euch zu Ehren einen ganz ganz riesengroßen Kringel am Himmel!“, rief Markus noch, als er im Rauch und Dunst verschwand.
Plötzlich zuckte die Angel. Bruno wollte danach greifen, aber Opa Günther hatte sie schon fest an sich genommen und spulte sie auf. Ein Karpfen hatte angebissen.
,,Na Bruno, gut geschlafen?“, lachte Opa.
,,Hab ich gar nicht!“, erwiderte Bruno – ein paar Zweifel hatte er aber schon. War das alles passiert und sollte er sein Erlebnis Opa Günther verraten? Was war eigentlich mit seinem Bruder Alfred? Der kam gerade aus der Küche und hatte mit Oma Marion gefrühstückt! Wie das? Alfred war doch immer dabei oder war Bruno tatsächlich eingeschlafen und hatte alles geträumt?
Zwei Dinge passierten jetzt gleichzeitig:
Die Sonne ging auf und strahlte auf den Burgteich, sodass er silbern glänzte.
Und zugleich stieß der große Schornstein auf der Wasserburg einen kunterbunten, kreisrunden Kringel aus, der fast unheimlich über dem Schornsteinrand schwebend zu einer runden Wolke mit Loch wurde…
,,Das ist Markus!“, rief Bruno begeistert. ,,Er hat es geschafft, Juhu!“
,,Das sieht tatsächlich märchenhaft aus!", staunte Oma Marion.
,,Wunderschön!'', bestätigte Opa Günther und alle schauten zum Himmel hoch.